Die 1950er sind nicht nur WM-Sieg, Wirtschaftswunder und biedere Heimatfilme. Die Jahre der Besinnung aufs private Familienglück sind gleichzeitig die Zeit, in der größere Demonstrationen stattgefunden haben als 1968. Die grundlegenden Fragen, wie wir zusammen leben wollen, müssen erst verhandelt werden. Und die Jugendliche werden aufmüpfig. Von Johannes Berthoud
Credits
Autor dieser Folge: Johannes Berthoud
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Katja Amberger, Jennifer Güzel
Technik: Andreas Caramelle
Redaktion: Nicole Ruchlak
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Literaturtipps:
Bodo Mrozek, „Jugend – Pop – Kultur. Eine transnationale Geschichte“ – beschreibt anschaulich und pointenreich den Aufstieg von Jugendkulturen Mitte des 20. Jahrhunderts, inklusive der Halbstarken in den 1950ern.
Siegfried Gohr, „Ich suche nicht, ich finde“: Pablo Picasso - Leben und Werk“ – erhellende bebilderte Einführung in das Werk von Pablo Picasso – allerdings klammert Gohr das berühmteste Werk „Guernica“ aus.
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHERIN
An einem Donnerstagabend im Juli 1956 verlassen einige Jugendliche im Berliner Arbeiterviertel Wedding die kleine, enge Wohnung ihrer Eltern.
Sie ziehen ihre Lederjacke an, setzen sich aufs Moped und knattern Richtung Afrikanische Straße, zum Cafe Punkt.
Die Jugendlichen gehören zur „Totenkopfbande“, einer Gruppe, die sich regelmäßig hier trifft, um Musik zu hören, zu tanzen, sich zu unterhalten. Die Anwohner vom Cafe Punkt haben sich schon häufiger über den Lärm der „Halbstarken“, wie sie sie nennen, und der Kleinkrafträder beschwert.
Diesmal, am 12. Juli, rückt die Polizei an und will die Straße räumen. Neugierige kommen dazu. Die Mitglieder der Totenkopfbande denken nicht daran, wegzugehen und bleiben vor dem Lokal stehen. Ein Wasserwerfer von der Polizei biegt um die Ecke. Polizisten zücken ihre Knüppel.
Atmo aufgebrachte Menschenmenge + Polizeisirene
Musik 1 aus.
Musik 2: Capri-Fischer – 14 Sek
SPRECHERIN
Jugendkrawalle passen nicht in das Klischee der 50er: Da kommt der Familienvater mit dem VW Käfer von der Arbeit.
ZSP 02 Millionenste Käfer Nordhoff
Unseren Volkswagen, so wie er heute ist, behalten wir noch sehr lange bei.
SPRECHERIN
Während ihr Ehemann in der Fabrik war, hat die Hausfrau die Wohnung geputzt und das Essen vorbereitet.
Musik 3 Willy Schneider - Grün ist die Heide – 31 Sek)
SPRECHERIN
Am Samstag geht’s ins Kino: Es läuft „Grün ist die Heide“.
ATmo Schallplatte, Musik reißt ab:
SPRECHERIN
All das gehört zwar zum ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik, aber eben nicht nur.
ZSP 05 Biermann Buntheit vielseitiger
im Grundsatz ist diese Demokratie in den 50er-Jahren und auch das Lebensgefühl viel vielseitiger, als uns aus der Rückschau das vor Augen steht.
SPRECHERIN
Der Historiker Harald Biermann - Präsident des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn.
ZSP 06 Biermann Proteste
Nur ein Beispiel: Herr Kraushaar, ein Historiker aus Hamburg hat eine Demonstrations-Chronik der 50er-Jahre herausgegeben, wo alle großen Demonstrationen in Westdeutschland nachgezeichnet werden. Und da stellt sich heraus, dass die großen Demonstrationen gegen die Wiederbewaffnung , für die Demokratisierung, sozusagen der Institutionen, gegen die Ausrüstung der Bundeswehr mit Atomwaffen, das, dass größere Demonstrationen waren als 1968.
Musik 4: Der Staat gegen Fritz Bauer (Epilog) - 1:10 Min
SPRECHERIN
Kein Wunder, die Menschen müssen erst verhandeln, wie sie zusammenleben wollen: welche Normen und Regeln sollen für eine Gesellschaft gelten, welchen Stellenwert sollen demokratische Prinzipien haben.
Auf die Frage, wer am meisten für Deutschland geleistet hat, landet Hitler in der frühen Bundesrepublik auf dem zweiten Platz, nach Bismarck.
Die Alliierten stellen in den Jahren nach dem Krieg zwar NS-Verbrecher vor Gericht. Unter Kanzler Konrad Adenauer war dann aber erst mal Schluss mit der Entnazifizierung. Viele große und kleine Nationalsozialisten konnten in der Verwaltung des neuen Staates einfach weitermachen. Ein Beispiel ist Hans Globke. 1935 wurden die „Nürnberger Gesetze" erlassen. Sie begründen die Verfolgung von Jüdinnen und Juden im Nationalsozialismus. An den Gesetzen war auch Globke beteiligt. Er verfasste als Jurist einen wichtigen Kommentar zu den Gesetzen. Unter Konrad Adenauer wird er trotzdem Chef des Bundeskanzleramts.
ZSP 07 Biermann Allensbach Beste Zeit 33-39
Allensbach befragt immer wieder was sind die, was war die beste Zeit bisher im 20.Jahrhundert. Und da sagen ganz ganz viele Menschen und vor allem auch Männer. Ähm, die beste Zeit im zwanzigsten Jahrhundert waren 1933 bis 39, also sozusagen das Dritte Reich im Frieden. Und das ändert sich erst so Ende der 50er-Jahre, diese Einschätzung.
SPRECHERIN
Gehorsamkeit gegenüber Autoritäten ist selbstverständlich. Der Idealtypus eines Mannes hat eine stramme Haltung und trägt Uniform.
Und dann knattern da plötzlich ein paar Halbstarke in Lederjacke auf ihrem Moped durch die Stadt, hören „Dschungelmusik“, wie es heißt, und hängen auf der Straße herum – wie beim Cafe Punkt im Wedding. Der Kulturschock für viele Ältere muss unvorstellbar gewesen sein.
ZSP 8 Mrozek Flammenwerfer
Und bei allen Verstößen gegen diese auch ästhetischen Normen, die eigentlich noch in der NS-Zeit etabliert waren. Da war der Ruf nach Haare abschneiden, Konzentrationslager oder Flammenwerfer nicht weit.
SPRECHERIN
Bodo Mrozek ist Historiker am Institut für Zeitgeschichte München-Berlin und Autor des Buches „Jugend – Pop – Kultur. Eine transnationale Geschichte“.
Die Jugendlichen, die so viel Anstoß erregen: sie kommen häufig aus der Arbeiterklasse und fallen auf, weil sie Jeans anhaben, manchmal Lederjacken und weil sie sich in Gruppen auf öffentlichen Plätzen treffen.
Mitte der 1950er kommt es in vielen deutschen Großstädten zu Krawallen.
ZSP 9 Mrozek Hannover
Und es reichte da wenig aus, um zu provozieren. In Hannover gab es einen Fall, wo auf der Straße, äh, Jugendliche überhaupt nur getanzt haben. Ein Vater entdeckt seine Tochter bei diesen obszönen Tänzen und zerrt sie davon, teilte aber vorher auch noch Boxhiebe an die jungen Tänzer aus. Und die reagieren natürlich darauf. Daraus entwickelt sich so ein groß Krawall. Und da sieht man exemplarisch, dass jetzt eigentlich die Gewalt nicht immer von den Jugendlichen ausging, sondern oftmals von der erwachsenen Kommunalgesellschaft, die sich durch ungewohnte Kultur provozieren ließ.
Musik 5: Der Postraub - 39 Sek
SPRECHERIN
Die „Halbstarken“ sind Thema in vielen Tageszeitungen - und im Radio.
ZSP 10 Diskussion mit Halbstarken 1 (frei ab 0:10 bis 0:23min; Archivnummer / Take: DK101130 Z00; Diskussion mit Halbstarken)
Seit Monaten häufen sich in der der Tagespresse fast aller großen Städte der Bundesrepublik die fetten Schlagzeilen über Verbrechen und Ausschreitungen Jugendlicher. Das heißt – Pfui! – Sei stad jetzt, was schreist denn jetzt scho, da hast ja danach nichts mehr drin in der Kehle.
SPRECHERIN
Der Münchner Stadtrat Mühlbauer spricht aber nicht nur über Halbstarke. Auch Jugendliche selbst kommen auf der Veranstaltung zu Wort, die der Bayerische Rundfunk am 21.09.1956 sendet.
ZSP 11 Diskussion mit Halbstarken 2 (ab 0:08min; Archivnummer / Take: DK101130 Z00; Diskussion mit Halbstarken)
Man kann die Vorfälle, die heute ab und zu vorkommen, einfach nicht der gesamten Jugend in die Schuhe schieben!
SPRECHERIN
Die Hysterie, die um die Jugendkriminalität entsteht, sagt vielleicht weniger über die Jugend aus als über die sich empörenden Bürger.
ZSP 12 Mrozek Jugendkriminalität
Man ging also auch in wissenschaftlichen Untersuchungen damals davon aus, wenn jetzt minderschwere Abweichung von der Norm geschehen, dass da eine ganze Generation von Kriminellen heranwächst, die dann auch als Erwachsene das Land dominieren.
SPRECHERIN
Dabei ist die Abweichung von der Norm, zumindest auf der popkulturellen Ebene, genau das, was auch in der großen Politik passiert.
Kanzler Konrad Adenauers Regierung aus Union und FDP setzt die Westbindung durch. 1955 gründet die Bundesrepublik die Bundeswehr und tritt der NATO bei.
ZSP 13 Adenauer NATO (Archivnummer: H0000850020)
Ich sehe in dem Eintritt der Bundesrepublik in den Nordatlantikpakt, einen Ausdruck der Notwendigkeit, den engen Nationalismus zu überwinden, der in den Vergangenen Jahrhunderten vielen Unglücks war.
SPRECHERIN
Die Jugendlichen orientieren sich auch nach Westen und hören amerikanische Rock’n’Roller wie Bill Haley oder Elvis Presley und schauen Filme mit Marlon Brando.
Musik 6: Elvis Presley - Don't be cruel (to a heart that's true) – 37 Sek
SPRECHERIN
Ganz nebenbei entsorgen sie schon mal ein preußisches Männerideal, das viele Deutsche noch länger hochhalten.
Die Stars aus Amerika – und deren deutsche Nachahmer wie der Sänger Peter Kraus – begeistern durch Lässigkeit, nicht durch stramme Haltung. In der ganz frisch gegründeten Jugendzeitschrift Bravo steht neben einem Poster von Marlon Brando.
SPRECHER 2
„Marlon ist ein so salopper Zivilist, daß er sich grundsätzlich in keiner Uniform wohlfühlt.“
Musik 7: Conny – Lippenstift am Jacket – 34 Sek
SPRECHERIN
Die Bravo schreibt natürlich auch über Schlagerstars, die die deutsche Hitparade dominieren. Fred Bertelmann, Peter Alexander, Margot Eskens, Freddy Quinn und Conny…
Musik hoch…
SPRECHERIN
Die neue Lässigkeit und die Abkehr vom Soldatenideal passt auch zu den Protesten gegen die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik. Viele lehnen Anfang des Jahrzehnts eine neue deutsche Armee ab – aus Kriegsangst, die auch durch die Geschehnisse im Fernen Osten bestärkt wird
1950 greift Nordkorea Südkorea an. Ähnlich wie DDR und BRD sind die beiden Länder aus einer sowjetischen und einer US-amerikanischen Besatzungszone hervorgegangen. Der Historiker Harald Biermann:
ZSP 16 Biermann Kriegsangst
Kriegsangst war eben real, weil sechs Jahre zuvor der größte Waffengang der Weltgeschichte zu Ende gegangen war. Also jeder konnte sich damals vorstellen, was es heißt, in Mitteleuropa einen Krieg zu haben. Und dieses koreanische Muster sozusagen drohte eben auch in Europa umgesetzt zu werden.
SPRECHERIN
Der überstandene Krieg prägt die Zeit – das heißt aber nicht, dass nun in der Bundesrepublik die deutsche Schuld zum öffentlichen Thema wird. Die meisten sehen sich selbst als Opfer des Krieges und als von Hitler und seiner Verbrecherclique Verführte.
ZSP 17 Biermann Beschäftigung NS
Es ist keine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, aber durchaus eine Beschäftigung mit der Vergangenheit, obwohl natürlich gesagt werden muss, dass zum Beispiel die Vernichtung der europäischen Juden im Großen und Ganzen kein gesellschaftliches Thema ist.
Musik 8: Der Staat gegen Fritz Bauer – siehe oben – 53 Sek
SPRECHERIN
Über den Holocaust wird nicht gesprochen.
Die Wehrmacht gilt im Gegensatz zur SS als saubere Armee und wird gerade nach der Wiederbewaffnung 1955 in Kriegsromanreihen gefeiert. „Der Landser“ verkauft sich hunderttausendfach.
Die Kriegsangst tritt da schon in den Hintergrund. 1953 ist der Koreakrieg zu Ende gegangen.
1955 erlangt die Bundesrepublik dann auch die Souveränitätsrechte von den Alliierten zurück. Und eine andere Nachricht rührt das ganze Land: Adenauer reist nach Moskau. In Sachen Wiedervereinigung erreicht er nichts, aber er bringt die Nachricht mit nach Hause, dass die letzten deutschen Kriegsgefangenen von den Sowjets entlassen werden. Die „Heimkehr der Zehntausend“.
TON 18 Biermann Aufbruch
Das war natürlich ein Aufbruch in eine neue Zeit, auch ein nachholen, also einerseits davongekommen, andererseits Aufbruch. Und dann, wenn die 50er-Jahre sich etwas weiterentwickeln, auch zunehmender Wohlstand der aber, und das muss man hier, glaube ich, noch einmal unterstreichen, hart erarbeitet werden musste.
Musik 9: Wirtschaftswunder Archivnummer: ZZ223375220 – 19 Sek
„Jetzt kommt das Wirtschaftswunder, jetzt kommt das Wirtschaftswunder“…
SPRECHERIN
Das Wirtschaftswachstum liegt im Durchschnitt bei 8 Prozent. Heute unvorstellbar.
ZSP 20 Ludwig Erhard - Wirtschaftskommentar Zukunft
Was hinter uns liegt, die Wiedererstarkung deutschen Lebens aus Trümmern und Verzweiflung mag uns wohl Trost und Hoffnung geben, dass in solchem Sinne Vergangenheit fruchtbar und lebendig bleibt,
SPRECHERIN
Wirtschaftsminister Ludwig Erhard mit seiner Zigarre ist die Ikone dieser Zeit.
ZSP 20 Erhard weiter
aber alles was den Menschen und ein ganzes Volk bewegt, gilt der Zukunft, hofft auf das morgen.
SPRECHERIN
Sechs Tage die Woche, 48 Stunden arbeiten viele Deutsche zu der Zeit.
ZSP 21 Werbung für Coca Cola aus den 50ern: Archivnummer / Take: WR030570 Z00 – 4 Sek – Sendereichte frei
Mach mal Pause, Coca-Cola!
SPRECHERIN
Die deutschen Männer vor allem sind erwerbstätig. Nachdem die Frauen in der Kriegszeit den Laden geschmissen haben, sollen sie sich wieder um den Haushalt und die Familie kümmern. Oder wenn, dann in Bereichen arbeiten, die den Frauen vorbehalten sind.
ZSP 22 Werbung Uhu (WR031670113, Senderechte frei)
Gisela, eine Sekretärin wie tausend andere
-Ich nehme Uhu gegen Laufmaschen. Einfach toll!
-Aah.
Musik 10 – Ein guter Informant – 1:05 Min
SPRECHERIN
„Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ – so steht es im Grundgesetz von 1949. Und das nur, weil Friederike Nadig, Elisabeth Selbert, Helene Wessel und Helene Weber dafür gekämpft haben. Neben 61 Männern waren sie die einzigen vier Frauen im Parlamentarischen Rat, der das Grundgesetz erarbeitet hat.
Die Adenauer-Regierung tut dann aber wenig dafür, diesen Satz aus der Verfassung mit Leben zu füllen.
ZSP 23 Adenauer Frauen [Archivnummer: DK30105]
Wir Männer merken eigentlich immer erst, was unsere Frauen bedeuten, wenn sie fehlen. Dann fehlt es überall im Haus.
SPRECHERIN
Noch bis 1957 gilt folgender Paragraph im Bürgerlichen Gesetzbuch:
SPRECHERIN 2
"Dem Mann steht die Entscheidung in allen das gemeinschaftliche eheliche Leben betreffenden Angelegenheiten zu; er bestimmt insbesondere Wohnort und Wohnung."
SPRECHERIN
Erst Ende der 50er erhalten Frauen bekommen mehr Rechte und die Arbeiter mehr Freizeit. Erste Branchen führen den freien Samstag ein. Die meisten Vatis werden am langen Wochenende trotzdem nicht die Kinder hüten – oder beim Zubereiten des Sonntagsessens helfen:
ZSP 26 Biermann Schmorrbraten
Lang gebraten, Schmorrbraten mit Leipziger Allerlei und frischen Kartoffeln.
SPRECHERIN
Der Präsident des Hauses der Geschichte Deutschlands Harald Biermann nennt ein typisches Essen für die Zeit.
ZSP 27 Biermann Fresswelle
Natürlich gab es diese Fresswelle, dass man eben nachholte, was in den Vierzigerjahren sagen wir jetzt mal nicht möglich war. Aber wenn man jetzt ökologisch korrekt ernährungstechnisch auf dem neuesten Stand wäre, muss man sagen, dass die Ernährung wahrscheinlich in den 50er Jahren besser war, weil man eben Braten nur sonntags aß also. Sonst gab es in den ganz vielen Fällen kein Fleisch.
SPRECHERIN
Die ersten Urlauber beginnen in den 50ern schon die lange beschwerliche Reise auf der alten Brenner-Passstraße nach Italien. Mitte des Jahrzehnts fährt aber erst ein Viertel aller Deutschen überhaupt auf Urlaubsreise. Das Ziel liegt fast immer in Deutschland. Und viele können von Reisen nur träumen. Gerade weil die Welt für viele noch so weit weg ist, gedeiht das Fernweh.
Musik 11: Komm ein bisschen mit nach Italien – 15 Sek
Komm ein bisschen mit nach Italien, komm ein bisschen mit ans blaue Meer. Und wir tun als ob das Leben eine schöne Reise wär…
Musik 12: Tipitipitipso Länge: 30 Sek -
SPRECHERIN
Noch weiter weg als Italien – vollkommen unvorstellbar. Aber im Kino oder im Schlager: Da ist alles möglich
Musik 13: Schwarzwaldmädel - 13 Sek
SPRECHERIN
Nicht nur im Schlager ist die Welt in Ordnung – auch im Heimatfilm.
ZSP 32 Biermann Kino
Der Heimatfilm hatte eine Entlastungsstrategie also gerade in den frühen 50er-Jahren. Wenn man, wenn man sagt, rund um mich herum war viel Vernichtung, war auch viel Ärger, war viel Anstrengung, dann entfloh man eben für anderthalb Stunden in ein Kino.
ZSP 33 34 Biermann Grün ist die Heide
also wenn sie an „Grün ist die Heide“ denken dann das war, glaube ich, der erfolgreichste Heimatfilm.
Musik 14: „Geheimnis“ – 50 Sek
SPRECHERIN
In „Grün ist die Heide“ wird ein verbitterter Vertriebener zum Wilderer. Früher hatte Lüder Lüdersen ein herrschaftliches Anwesen und viel Wald. Nach der Flucht aus dem Osten mit seiner Tochter in die Lüneburger Heide muss er als Verwalter arbeiten – und wildert. Als ein Gendarm erschossen wird, fällt der Verdacht auf ihn. Dabei steckt ein wirklich gewissenloser Wilderer und Schurke hinter dem Mord. Auf ihn trifft er in der Heide. Es kommt zum Kampf, Lüdersen wird verwundet. Aber der Förster rettet ihm das Leben - und kommt endgültig mit dessen Tochter zusammen.
ZSP 33 34 Biermann Grün ist die Heide weiter
Da wird schon sehr genau darauf geachtet, das die Vertriebenen, die eben dort auch eine Rolle spielen, sozusagen dann in die Heimat integriert werden. Und das sind schon - also bei aller sage ich mal oberflächlichen Ästhetik, ganz interessante gesellschaftliche Entwicklungen, die dort abgebildet werden.
Musik 15: Das Verhör der Gang – 20 Sek
SPRECHERIN
Aber auch um die jugendlichen Mopedfahrer drehen sich Filme. Einer heißt sogar „Die Halbstarken“. Die Hauptfigur Freddy stiftet seine Bande zum Überfall auf ein Postauto an. Am Ende geht alles furchtbar schief und er wird verhaftet.
1957 zählen die Kinos über 800 Millionen Besucher. Zum Vergleich: 2023 sind es unter 100 Millionen. Die Menschen suchen in den 50ern im Kino nicht nur Ablenkung. Es laufen auch Nachrichten: Die Wochenschauen. Da die Fernseher erst langsam in den Wohnzimmern ankommen, informieren die Menschen sich in den Kinos. Mit der Zeit haben sie immer mehr Geld für Musiktruhen, Schallplatten, Mopeds und Schmorbraten. Der Konsum zeigt vielleicht am besten, dass die 50er wie jedes Jahrzehnt einer willkürlichen Einordnung folgen. Denn die Unterschiede zwischen 1950 und 1959 sind gewaltig. Das Geld, das zum Ausgeben übrigbleibt, verdoppelt sich in dem Zeitraum. Vom Wirtschaftswunder-Chanson kennt jeder den Refrain, aber so fängt er an:
Musik 16 Jetzt kommt das Wirtschaftswunder – 18 Sek
Die Straßen haben Einsamkeitsgefühle und fährt ein Auto ist es sehr antik.
SPRECHERIN
Aber dann kommt das Wirtschaftswunder und 1955 läuft der Millionste Käfer vom Band.
ZSP 36 Biermann Staus
Anfang der 50er Jahre hatte fast niemand ein Auto, und Ende der 50er-Jahre gibt es in allen größeren Städten Staus.
Musik 17: Goofin‘ around – siehe vorn – 17 Sek
SPRECHERIN
So langsam konnten sich die Bürger wieder was leisten. Nach Jahren des Darbens, haben alle freudig mitkonsumiert. Auch die aufmüpfigen Jugendlichen mit ihren Mopeds hätten gewollt. Die „Halbstarken.“ Die amerikanischen Stars machen ihnen ja vor, wie man lässig aussieht.
SPRECHERIN
Der Historiker Bodo Mrozek hat zu Jugendkulturen in der Mitte des 20. Jahrhunderts geforscht.
Der Markt hat im Gegensatz zu den Eltern kein Problem mit den aufmüpfigen Jugendlichen- und bald gibt es alles, was deren Herz begehrt.
ZSP 38 Mrozek Bravo Mode
Diese Wirtschaftsgeschichte ist ja kaum zu verstehen, wenn man nicht die Attraktion popkultureller Images versteht, von der Schallplatte übers Abspielgerät zum übers Kleinkraftrad hin bis zum T-Shirt. Das sind ja eigentlich die Ansätze, die auf kultureller Ebene gesetzt werden und dann in Angebot und Nachfrage zu harter Wirtschaftsgeschichte umgemünzt worden sind.
SPRECHERIN
Am Ende der 50er stellen Meinungsforscher dann fest: Die ganze Aufregung, um eine kriminelle Generation, die da angeblich heranwächst, war umsonst. Die Jugendlichen teilen die Werte der Elterngeneration.
ZSP 39 Mrozek Werte der Elterngeneration
Sie wollten ein Eigenheim, einen sicheren Job und eine Familie gründen.
SPRECHERIN
Und doch haben die so genannten Halbstarken einen Anteil daran, wie wir heute leben. Sie haben damit begonnen, die Kultur in Deutschland umzukrempeln.
ZSP 40 Mrozek Avantgarde
Das war ja eigentlich genau die Westbindung, die die Bundesrepublik auch durch die Kulturpolitik, die starke Orientierung an Amerika allmählich vollzogen hat, um eben auch aus diesem deutschen Nationalismus. Und man muss ja auch sagen, aus dem Nationalsozialismus allmählich heraus zu kommen. Und so gesehen waren die Jugendlichen schon eine Avantgarde, die kulturelle Entwicklung vorweggenommen hat, die die Bundesrepublik später ganz offiziell vollzogen hat, auch wenn es zu keine expliziten politischen Forderungen gehabt, die von dieser Jugend jetzt lautstark erhoben worden wären.
SPRECHERIN
Die 50er Jahre in der Bundesrepublik waren ein Jahrzehnt des Aufbruchs. Viel lebendiger und aufregender als unser kollektives Gedächtnis häufig erinnert. Optimismus und steigender Wohlstand prägen das Lebensgefühl. Demokratische Werte finden immer mehr Resonanz, aber es wird noch dauern, bis es eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der NS-Zeit und der deutschen Schuld gibt. Die Vernichtung der europäischen Juden ist eine dröhnende Leerstelle, über die so gut wie keiner spricht.
Musik 18: Der Staat gegen Fritz Bauer (Epilog) – siehe vorn – 41 Sek
Trotz des Aufbruchs, die biedere und ordnungsliebende Anmutung der Zeit, von der sich die Halbstarken abgewendet haben, ist nicht im Nachhinein erfunden. Das zeigt auch ein letztes Klischee, das hier entlarvt werden soll.
Musik 19 – Immer elegant – 36 Sek
50er Jahre Möbel aus dem 20. Jahrhundert sind im 21. Jahrhundert wieder gefragt. Der Nierentisch mit leicht schräg nach außen stehenden Beinen ist hip.
ZSP 41 Biermann Nierentisch
So sah aber keine Wohnung aus. Die Realität war immer allgemeiner gesprochen. Die Realität war Gelsenkirchener Barock. Also die Menschen vertrauten auf die Möbel, die sie haben retten können, aus den 20er oder 30er Jahren. Also Eiche rustikal Schrankwand und der röhrende Hirsch über dem über dem Sofa.