logo
episode-header-image
Apr 2025
23m 31s

Italienische Saisonarbeit in Bayern - Tr...

BAYERISCHER RUNDFUNK
About this episode

Bittere Armut trieb die Menschen in Norditalien dazu, sich in den Sommermonaten auf bayerischen Baustellen und Ziegeleien zu verdingen. Der Bauboom des späten 19. Jahrhunderts ist auch ihr Verdienst. Von Julia Devlin

Credits
Autorin dieser Folge: Julia Devlin
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Thomas Birnstiel, Caroline Ebner, Sebastian Fischer
Technik: Robin Auld
Redaktion: Thomas Morawetz

Im Interview:
Lambert Grasmann, ehem. Direktor des Heimatmuseums Vilsbiburg

Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:

Mutter haben - Eine Familiengeschichte im Schatten der deutschen Teilung von Ruth Johanna Benrath in 2 Episoden
JETZT ENTDECKEN

Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.

RadioWissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | RadioWissen
JETZT ENTDECKEN

Das vollständige Manuskript gibt es HIER.

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

ZITATOR Pietro Menis

Meinen Einstand, meine erste Erfahrung in Deutschland erlebte ich zu Beginn des Jahrhunderts in der Ziegelei von Marktoberdorf in Bayern. Ich war noch keine elf Jahre alt und hatte nie zuvor einen Zug bestiegen, noch die Welt jenseits der Berge von Gemona gesehen. Dreißig Stunden dauerte die Fahrt in drei verschiedenen Zügen: einer bis zur Grenze bei Pontebba, ein zweiter durch Österreich bis Kufstein und ein dritter durch Ebenen, dichte Wälder und geschäftige Städte des fetten Bayern. Wie groß war doch die Welt!

SPRECHERIN

So beschrieb der Schriftsteller Pietro Menis, wie er im Jahr 1903 das erste Mal nach Bayern kam, um als "Mui", als Wegtrager in einer Ziegelei zu arbeiten. Er war zehn Jahre alt, und ihn quälte das Heimweh. 

ATMO Dampfzug

ZITATOR Pietro Menis

'Gleich sind wir da, "mui", packt eure Sachen.' Durch das beschlagene Fenster sah ich dichtes Schneetreiben. Kurz danach hielt der Zug unter einem kleinen Dach, unter das der Sturm den Schnee trieb. Ich zitterte vor Kälte und Angst. 'Um diese Zeit macht deine Mutter die Polenta!' sagte einer. Ich begann zu weinen; sie hatten ihr Ziel erreicht und lachten mit unmenschlichem Vergnügen. Ich erinnere mich, daß 'die Großen', die 'eisenharten' Ziegler, auch später, in den folgenden Jahren, ihren Sadismus auslebten, indem sie den Jüngsten ihre heiligste Zuneigung in Erinnerung riefen - die geliebten Gesichter in der Ferne.

SPRECHERIN

Pietro war einer von tausenden Italienern, die im 19. und frühen 20. Jahrhundert ihre ländlich geprägte Heimat in Norditalien verließen, um sich während der Sommersaison im Ausland zu verdingen. 

ZITATOR Pietro Menis

Die 'Arbeit', die Ziegelei, befand sich in einem kleinen Tal zwischen einem Hügel, der rechts anstieg, und einem Fluß, der links hinunterfloß. 'Beim Morgengrauen geht's los. An die Mutterbrust könnt ihr euch im Herbst wieder werfen...'

MUSIK 2 Gerd Baumann & Gregor Hübner: In dead silence 1‘00

SPRECHERIN

Es war die bittere Not, die die Menschen dazu zwang. Schon immer war es in den kargen Alpentälern schwer gewesen, sich ein Auskommen zu verschaffen, und Saisonwanderung, besonders von spezialisierten Handwerkern wie Terrazzolegern und Schmieden, aber auch von Krämern, hatte jahrhundertealte Tradition. Dann geriet die italienische Landwirtschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in eine Krise, da billige Agrarprodukte aus Russland und den USA auf den Markt kamen. Dies traf besonders die norditalienische Region Friaul schwer. Gleichzeitig wuchs die Bevölkerung stark an, vor allem, weil die Kindersterblichkeit erheblich zurückging. Die Menschen verarmten, denn es gab nicht genug Arbeitsplätze in der Nähe. Nun waren es nicht mehr nur die spezialisierten Handwerker, die saisonal nach Arbeit suchten, sondern vor allem ungelernte Kräfte.

ATMO Baulärm

SPRECHER

Anders nördlich der Alpen. In der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts nahm die Industrialisierung im Deutschen Kaiserreich Fahrt auf, die Städte wuchsen, das Eisenbahnnetz verdichtete sich. Es gab immer mehr Arbeit, und immer mehr Baustellen. Gleichzeitig wurde es auch immer schwieriger, in den Sommermonaten genügend Arbeitskräfte für die Saisonarbeit zu finden. Mit Einheimischen war das nicht mehr zu stemmen - zumal am Ende des 19. Jahrhunderts eine Auswanderungswelle knapp zwei Millionen Deutsche nach Übersee geführt hatte. Da lag es nahe, ausländische Arbeitskräfte anzustellen. Sie waren bereit, die harte Arbeit zu leisten, die bei den Einheimischen nicht beliebt war. 

MUSIK 3 Gerd Baumann: Sieben Leben 0‘56

SPRECHERIN

Auch Bayern boomte. Hier fanden vor allem Arbeitskräfte aus Italien Arbeit. Weil sie von jenseits der Alpen kamen, wurden sie "transalpini" genannt. Sie fanden - wie Pietro Menis - vor allem in den zahlreichen Ziegeleien Arbeit. Wo immer sich im lehmreichen Bayern im 19. Jahrhundert ein Vorkommen dieses Rohstoffs fand, wurde er alsbald abgebaut, zu Ziegeln verarbeitet und zu den nächstgelegenen Baustellen gebracht. Zahlreiche Ziegeleien gab es zum Beispiel um Augsburg und München. Die dort gefertigten Ziegel wurden für den Bau der rasch wachsenden Stadt benötigt, für die großen Kasernen, für die Pflasterung der Gehwege und Straßen und für die Tunnel der neuen Kanalisation. Die Städte waren ziegelhungrig, sie verschlangen Unmengen des Baustoffes.

SPRECHER

Doch auch anderswo, wo der Rohstoff Lehm zu finden war, entstanden aufgrund der großen Nachfrage Ziegeleien. So auch im niederbayerischen Vilsbiburg. Im Heimatmuseum der Stadt erfährt man viel zu der Ziegeleigeschichte. Lambert Grassmann hat hier in seiner Zeit als Direktor des Heimatmuseums die Abteilung "Ziegelpatscher und Ziegelbrenner im Vilsbiburger Land" eingerichtet. Im obersten Stockwerk des stattlichen Baus - dem ehemaligen Heilig-Geist-Spital aus dem Spätmittelalter- kann man seine Funde bewundern. 

SPRECHERIN

Da gibt es Dachziegel aller Formen und Größen, tönerne Wetterhähne, die hölzernen Formen, in denen der rohe Lehm gepresst wurde. Es gibt markierte Ziegelsteine, die Beschriftungen tragen, auf denen eine Zeichnungen eingeritzt ist oder ein Name. Dies sind die Feierabendziegel, bei denen sich ein Ziegler die Freude gemacht hat, einen Ziegel individuell zu verschönern. Anrührend das Exemplar, das den Abdruck einer kleinen Hand zeigt: Hier hat ein Kind, vielleicht so alt wie Pietro Menis, seine Hand in den noch feuchten Lehm gedrückt. Lambert Grasmann hat diese Exponate zusammengesucht. Wie er erzählt, hat er

O-Ton Grasmann 1

Darunter einen Ziegelstein erhalten, eine Bodenplatte, die bezeichnet ist: "Buia, Santi Angelo". Kein Mensch hat gewusst, was das bedeutet. 

SPRECHER

Die quadratische Platte aus Ton stammte aus einem Bauernhaus der Umgebung. Sie war Teil des Fußbodenbelags gewesen. Jemand hatte sich große Mühe damit gegeben, in sorgfältigen Buchstaben in den noch feuchten Ton zu ritzen: Buia Santi Angelo.  

O-Ton Grassmann 2

Der Kreisheimatpfleger von Dingolfing, Fritz Markmüller, hat mir das aufgelöst: Buja ist eine Stadt, wo - aus dem Umkreis vor allem - Ziegler nach Bayern, in die Schweiz und nach Frankreich gewandert sind und haben Ziegel hergestellt. 

SPRECHERIN

Buja liegt im Friaul, einer Landschaft in Venetien im Nordosten Italiens. Die in Bayern tätigen transalpini kamen vor allem aus dieser Gegend. Lambert Grassmann hat sogar noch einen persönlichen Kontakt zu den transalpini herstellen können.

O-Ton Grassmann 3

Und ich habe einen alten Herrn gefunden, der ist mir verraten worden von der Gemeinde, einen Domenico Calligaro, dessen Vater in Vilsbiburg von 1883 bis 1908 Akkordant, also Ziegelmeister war, und der für die Anwerbung der Arbeiter, dann fürs Essen zuständig war, und auch für die Bezahlung, die er ja vom Ziegeleibesitzer erhalten hat, die hat er dann an die Arbeiter weitergegeben. 

SPRECHERIN

Die Akkordanten waren Zwischenunternehmer. Sie waren oft selber Ziegeleiarbeiter gewesen und beherrschten die benötigten Sprachen - deutsch, italienisch und das im Friaul gesprochene furlanisch. Vor Saisonbeginn handelten sie mit den Ziegeleibesitzern einen Vertrag aus. Darin wurde festgelegt, wieviele Steine zu liefern waren und wie die transalpini untergebracht und verpflegt würden. Auch der Preis für 1000 Stück Steine wurde ausgehandelt. Mit dem Vertrag in der Tasche kehrten die Akkordanten ins Friaul zurück und warben dort eine Mannschaft, die sogenannte squadra an. Die Menschen, die die Wintermonate ohne Einkommen gewesen waren, verpflichteten sich bereitwillig. Diese Tage des Anheuerns wurden in einigen Dörfern wie ein Volksfest begangen, auch wenn kritische Stimmen von einem "Markt für Menschenfleisch" sprachen. 

MUSIK 4  Gerd Baumann: Brenner 1‘00

SPRECHER

Im März oder April brachen die Ziegler dann nach Deutschland auf. Vor dem Bau der Bahn war dies ein Fußmarsch von etwa zehn Tagen. Die Route folgte jahrhundertealten Pfaden, über den Plöckenpass, den Felbertauern und den Pass Thurn nach Kitzbühl und Kufstein bis nach Bayern. Der Akkordant führte seine Arbeitsgruppe, organisierte die Verpflegung und die Unterkunft auf der Strecke.

SPRECHERIN

Mit der Brennerbahn wurde 1867 eine direkte Verbindung zwischen Deutschland und Italien geschaffen. Dies verkürzte die Reisedauer nach Bayern auf zwei Tage. Im Herbst ging es dann zurück. Der Akkordant Luigi Calligaro blieb jedoch in Vilsbiburg, wie Lambert Grassmann von dessen Sohn erfahren hat.

O-Ton Grassmann 4

Der Domenico Calligaro, 1890 geboren, war natürlich bei seinem Vater mit dabei, und der Mutter, und die haben diese Jahre, von 1883 bis 1908 in Vilsbiburg gelebt. Die sind praktisch nicht heimgefahren, oder heimgewandert, wie die Ziegelarbeiter, die ja im März gekommen sind und im Oktober, spätestens Anfang November wieder in die Heimat mit Geld zurückgekehrt sind, sondern der ist dageblieben. Dieser Luigi Calligaro, dieser Akkordant, der hat in Vilsbiburg eine gehobene Stellung gehabt. Der war schon jemand, den man auch gehört hat.

SPRECHER

Durch ihre Orts- und Sprachkenntnisse hatten die Akkordanten eine mächtige Position, denn die von ihnen geworbenen Saisonarbeiter waren auf sie ebenso angewiesen wie die Ziegeleibesitzer. Möglicherweise war die verbesserte Bahnverbindung der Grund dafür, dass der Akkordant Luigi Calligaro nicht mehr als Begleitung benötigt war. Auch war es für das Familienleben einfacher - der Sohn Domenico musste nicht aus seinem Alltag herausgerissen werden. 

O-Ton Grassmann 5

Er war ja im Kindergarten in Vilsbiburg, und ist auch in die Schule gegangen, er hat mir sein Schulzeugnis gezeigt. 

Ich hab von seinem Sohn dann, vom Piere-Luigi, ein Erstkommunionzeugnis von 1901 bekommen; das kann man im Heimatmuseum sehen. 

MUSIK 5 Salewski & Thomas Geltinger: Radfahren 0‘52

SPRECHERIN

Fast achtzig Jahre später kehrte Domenico Calligaro nach Vilsbiburg zurück - 1979, zu einem Klassentreffen. Lambert Grassmann hat ihn dann kurz darauf während eines Italienurlaubs in Buja besucht. Daraus entwickelte sich nicht nur eine persönliche Freundschaft, sondern auch eine lebendige Städtepartnerschaft zwischen Vilsbiburg und Buja. 

SPRECHER

Sehr gerne kommen die Besucher aus Buja ins Museum, denn hier liegt ein Verzeichnis mit über 2.300 italienischen Ziegelarbeitern und -arbeiterinnen aus. Lambert Grasmann hat dazu Krankenversicherungsunterlagen ausgewertet. Denn im wilhelminischen Kaiserreich waren ab 1883 alle Beschäftigten in Handwerks-, Fabrik- und Gewerbebetrieben krankenversicherungspflichtig. 

O-Ton Grassmann 7

Da sind also die Namen drin, die Herkunft der Ziegler, die persönlichen Daten, der Arbeitsort, und die Arbeitszeit, also vom Anfang bis zum Herbst, solang sie halt da waren. 

SPRECHERIN

Eine Fundgrube für die Familienforschung.

O-Ton Grassmann 8 

Wenn Besucher aus Buja kommen, da können die wunderbar suchen drin, die finden dann einen Angehörigen, der da gearbeitet hat.

MUSIK 6  Salewski & Thomas Geltinger: Oli 1‘00

SPRECHERIN

Die Arbeit in den Ziegeleien war hart. Ein zeitgenössischer Beobachter schreibt: 

Zitator Giovanni Cosattini

Die Arbeiter, welche der größten Anstrengung unterworfen sind, sind die Handformer, deren Arbeit, den Tonklumpen hochzuheben und in die Form zu drücken, eine große Arbeitskraft in Armen und Brust erfordert... Jeder Ziegelformer hat eine Arbeitsbank zu seiner Verfügung nebst einer kleinen Kiste für den Sand, der auf das Rohmaterial gestreut wird... Ihm helfen zwei Muli, wie im Berufsjargon die beiden Knaben zwischen 10 und 15 Jahren genannt werden, denen es obliegt, die gefüllte Form aufzuheben, den Ziegel herauszunehmen, ihn auf den Trockenplatz zu schaffen, die Form zur Bank zurückzubringen, sie mit Sand zu bestreuen und dem Former zu reichen. 

SPRECHERIN

Auch Frauen wurden als Muli eingesetzt.

O-Ton Grassmann 15

Die Frauen, das waren die Wegtrager. Und die Kinder. Die mui auf Furlan, auf Friulanisch, und sonst auf Italienisch heißen sie muli. So hat man sie genannt, und so hat man sie auch benutzt.

SPRECHERIN

Zwischen fünf- und siebentausend Ziegel musste ein einzelner stampatore, ein Ziegelpatscher, wie er auf bayerisch hieß, an einem Tag schlagen. Die Arbeit begann zwischen vier und fünf Uhr morgens und dauerte bis in die Nachtstunden. Und dies bei ebenso dürftiger Ernährung, die vor allem aus Polenta und Käse bestand, und bei dürftiger Unterkunft: Die Schlafräume waren meist mit Stroh ausgelegte Bretterverschläge auf dem Gelände der Ziegelei, oder die Holzböden der Trockenstadel. 

SPRECHER

Im Jahre 1879 setzte das Königreich Bayern eine Gewerbeaufsicht ein, um den Schutz von Arbeitern und Arbeiterinnen in Betrieben zu kontrollieren. Lambert Grassmann weiß zu berichten: 

O-Ton Grassmann 9

Da ist der sogenannte Fabrikeninspektor gekommen aus Landshut und hat nachgeschaut, wie es mit den Arbeitsstellen ausschaut, mit den Unterkünften, etc., mit den hygienischen Verhältnissen, und das waren natürlich nicht die besten. Gerade die sogenannten Aborte, hat er geschrieben: "Es gibt kein Dach, es gibt keine Seitenwand, es gibt keine Rückwand, es gibt keine Türe. Es gibt nur einen Balken." Und dann, aufgrund dieser Beanstandung, ist es dann besser geworden. Es sind dann feste Unterkünfte gemacht worden, ein paar Häuser stehen noch... 

SPRECHER

Besonders die Kinder- und Jugendarbeit in den Ziegeleien war der Gewerbeaufsicht ein Dorn im Auge. Sie versuchten, das Mindestalter für die Jugendlichen heraufzusetzen und ihre Arbeitszeit zu begrenzen. 

O-Ton Grassmann 10 

Es hat einen Aushang geben müssen, wo also diese Schüler aufgelistet werden müssen, 28.47 und da ist also immer wieder aufgefallen, dass welche unter 13 Jahren, mit 10 Jahren also haben sie welche mitgenommen. Und die san dann heimgeschickt worden. Wie das gegangen ist, weiß ich nicht, aber sie sind dann heimgeschickt worden.

MUSIK 7 Salewski & Thomas Geltinger: Martins Aquarium 1‘24

SPRECHERIN

Auch in der bayerischen Schulbehörde sorgte man sich um die minderjährigen Italiener. Denn die Schulpflicht erstreckte sich in Bayern auch auf ausländische Kinder. So richtete ab 1890 die Schule an der Wörthstraße im Münchener Stadtteil Haidhausen eigene Schulklassen ein, in denen die Kinder der transalpini und jugendliche Ziegeleiarbeiter auf Italienisch unterrichtet wurden. Hier, am Ostufer der Isar, befanden sich zahlreiche Ziegeleien, denn zwischen Ismaning und Ramersdorf erstreckte sich eine ertragreiche Lehmzunge.

SPRECHER

Das Ansinnen mutet heute bemerkenswert fortschrittlich an. Es war ein bayerisch-italienisches Prestigeprojekt. Der päpstliche Nuntius schaute gelegentlich vorbei. Der italienische Generalkonsul und der Vizekonsul ließen sich gerne bei der jährlichen Abschlussfeier sehen, und dank großzügiger Spenden wurde jedes Kind an diesem Tag mit einem neuen Gewand, einer Brotzeit und einem Glas Bier bedacht. Doch die gutgemeinte Idee scheiterte an der Praxis. Zu weit waren die Wege, und zu sehr wurde die Arbeitskraft auch der Jüngeren gebraucht. Und so wurde das Projekt schon 1904 wieder aufgegeben.

SPRECHERIN

Auch die katholische Kirche kümmerte sich um die transalpini. Dies war aufgrund der Konfession naheliegend. Die Kirche verglich die Arbeitsmigration mit dem Exodus der Israeliten aus Ägypten oder mit der Flucht der Heiligen Familie. Sie gründete die Hilfsorganisation "Opera di assistenza". Lambert Grassmann weiß von Vilsbiburg zu berichten: 

O-Ton Grassmann 13

31.01 1898 hat also die Obrigkeit möglich gemacht, dass die italienischen Ziegelarbeiter in der Wallfahrtskirche Maria Hilf zu Vilsbiburg einen Gottesdienst haben besuchen können, und die Predigt hat ein aus München stammender ... Pater gehalten, der Pater Linus, der war Vikar des Kapuzinerklosters in München, hat natürlich Italienisch können, vielleicht war's sogar ein Italiener. 

MUSIK 8  Pixner, Delgado, u.a.: Melanchodia 1‘16

SPRECHER

Neben den Ziegeleien waren die zahlreichen Baustellen im Boomland Bayern ein Betätigungsfeld der transalpini. Im Hoch- und Tiefbau, für Häuser, Tunnels, Straßen und Eisenbahn wurden die italienischen Wanderarbeiter eingesetzt. Hier kamen den transalpini ihre Erfahrung mit dem schwierigen Terrain der Alpen zugute. Der bayerische Schriftsteller Oskar Maria Graf schildert in seinem autobiografisch geprägten Roman "Das Leben meiner Mutter", wie er einen solchen Bautrupp erlebte: 

ZITATOR Oskar Maria Graf

Die Bauleute setzten sich zum Teil aus bärtigen, dunkelhäutigen, ausgedörrten Italienern zusammen... Sie redeten ein ziemlich unverständliches Kauderwelsch zusammen, aber sie schufteten viel ergebener als die einheimischen, meist schon gewerkschaftlich organisierten Maurer. Sie kamen scharenweise Sommer für Sommer aus den armen Gegenden ihrer fernen Heimat, arbeiteten für jeden Lohn und kannten nur eine Kameradschaft unter sich, die wahrscheinlich auch nur von der gleichen Sprache herrührte. Sie knauserten und sparten und waren auf jeden Pfennig Nebenverdienst gierig erpicht...

SRECHERIN

Oskar Maria Graf beschreibt, warum die transalpini als Arbeitskräfte so beliebt waren: sie waren zuverlässig, anspruchslos und bereit, die unbeliebte, harte Arbeit zu leisten. Zudem waren sie durch ihre mangelnden Deutschkenntnisse und ihren immer nur saisonalen Einsatz isoliert. Daher wurden sie gerade auf Baustellen immer wieder als Streikbrecher und Lohndrücker eingesetzt, wo sie teilweise durch Polizei von den einheimischen Arbeitern abgeschirmt werden mussten. Denn sie machten sich dadurch natürlich nicht beliebt. Die Bezeichnung "Furlan", eigentlich nur die Bezeichnung für eine Person aus dem Friaul, wurde in deutschen Maurerkreisen sogar ein Synonym für einen Streikbrecher.

SPRECHER

Graf spricht auch die Sparsamkeit der transalpini an. Sie gaben kaum etwas für sich selber aus, denn sie wollten möglichst viel Geld mit zurück nach Hause nehmen. Das trug in der Tat Früchte. Der Lebensstandard in der Heimat besserte sich, denn die Wanderarbeiter brachten nicht nur ihr Geld, sondern auch ihr Wissen und ihre Fertigkeiten mit ins Friaul. Die Schattenseite war jedoch, dass sie über ein halbes Jahr zuhause fehlten - ein geregeltes Familienleben war mit monatelang abwesenden Familienvätern nur schwer möglich, und die Arbeit in der Landwirtschaft mussten die Daheimgebliebenen stemmen.

SPRECHERIN

Eine weitere Schattenseite war der gestiegene Bierkonsum der Heimgekehrten. Oft wurde auf den bayerischen Ziegeleien Bier ausgeschenkt, und viele transalpini wollten es auch während der Wintermonate in der Heimat nicht mehr missen. Die Brauereien im Friaul steigerten ihre Produktion zwischen 1890 und 1914 um das Neunfache. Gleichzeitig stieg die Anzahl der Todesfälle durch Alkohol rasant an. Besonders beunruhigend war, dass gerade die Kinder und Jugendlichen, die aus Bayern zurückkehrten, sich das Biertrinken angewöhnt hatten. 

MUSIK 9  Gerd Baumann & Ensemble: Neon poetry 1‘21

SPRECHER

Wie viele transalpini in Bayern arbeiteten, lässt sich nur ungenau feststellen, Schätzungen gehen von zwölf- bis fünfzehntausend Personen für eine Sommersaison aus. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs kam die Massenwanderung schlagartig zum Erliegen. Die Italiener, die sich gerade zur Saisonarbeit in Bayern aufhielten und im August 1914 von der Kriegserklärung überrascht wurden, kehrten überstürzt nach Hause zurück. Angetrieben von der Furcht, dass eine Rückkehr später nicht mehr möglich sein könnte. Es gab Unruhen und Staus in vielen Grenzorten, so auch in Kufstein, ein Nadelöhr für die transalpini, die von Bayern ins Friaul zurück wollten. Oder mussten: Denn viele transalpini erhielten einen Einberufungsbefehl. Aus Zieglern wurden nun Soldaten. Das Kriegerdenkmal in Buja zählt 101 Ziegler auf, die im Ersten Weltkrieg gefallen sind.

SPRECHERIN

Und so kam die lange Tradition der Arbeitsmigration von Italien nach Bayern zum Erliegen. Erst gute vier Jahrzehnte später, in der Wirtschaftswunderzeit, schloss die junge Bundesrepublik ein Abkommen über Arbeitswanderung mit Italien. Dabei zeigte sich, dass beide Seiten noch stark auf die Erfahrung der transalpini vor dem Ersten Weltkrieg zurückgriffen, was eine Illusion der Rückkehr anbetraf. Vor allem die Bundesregierung glaubte, dass die sogenannten Gastarbeiter saisonal oder nach Konjunktur zu steuern wären, weil man sich noch an der zyklischen Arbeitsstruktur des Kaiserreichs orientierte. 

MUSIK 10 Iso 68: Diffusion capricc. 0’47

SPRECHER

Was bleibt von Jahrzehnten der Arbeitsmigration? Nur wenige transalpini ließen sich auf Dauer in Bayern nieder. Doch ihr Vermächtnis findet sich in den Bauten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, vermauert in Häusern und Schulgebäuden, Kirchen und Kasernen, Krankenhäusern und dem unterirdischen Kanalnetz der Städte. 


Up next
May 2025
Muttertag - Wer hat's erfunden?
Bis heute haftet dem Muttertag seine schwärzeste Epoche an: Im Nationalsozialismus wurde er von einer menschenverachtenden Ideologie durchzogen. Doch stammt der Tag ursprünglich aus der Frauen- und Friedensbewegung. Die Geschichte eines bis heute umstrittenen, vielgesichtigen Fei ... Show More
22m 49s
Apr 2025
Der Brennerbasistunnel - Rekordbaustelle unter den Alpen
Die Straßenverbindung über den Brenner ist völlig überlastet. Abhilfe soll der Brennerbasistunnel schaffen. Seit 2007 wird an der 64 km langen Eisenbahnstrecke unter den Alpen gebaut. Das Projekt ist allein schon durch seine Dimensionen eine Herausforderung. Von David Globig. Cre ... Show More
24m 40s
Apr 2025
Spargel - Kultgemüse in der Krise?
Von Liebhabern wird er als erstes heimisches Freilandgemüse nach dem Winter sehnsüchtig erwartet: Spargel. Blütenweiß, grün, aber auch lilafarben. Er steckt voller Mineralstoffe und Vitamine. Doch sein Preis ist stolz, sein Anbau arbeitsintensiv. Ist das Kultgemüse in der Krise? ... Show More
22m 31s
Recommended Episodes
Oct 2024
Musik – Eine universelle Sprache?
Menschen, die nicht dieselbe Sprache sprechen, können zum selben Beat tanzen und zur selben Melodie singen und emotional bewegt sein. Dazu müssen sie Musik nicht wie eine Sprache verstehen. Von Christoph Drösser (SWR 2024) | Manuskript und mehr zur Sendung: http://swr.li/musik-sp ... Show More
28m 31s
Jan 2025
Der Nahrungsergänzungsmittel-Entrepreneur
Der Nahrungsergänzungsmittel-Entrepreneur „Achtsam baden.“ Mix ist der „Better Man“. Es ist Wahnsinn. Mit vollem Magen ist gut fasten. In Zukunft wird der Trigema-Affe mit Mix die Show machen. Ein ganz, ganz großer Film. Ich bin der Routinen-König. Chris: „Kann man mehrere Projek ... Show More
33m 55s
Dec 2024
Wer erschoss Tupac? + P. Diddy Update
#238: Tupac Shakur kommt aus der Bronx und wird mit Anfang 20 zum Rap-Megastar. In den 90ern feiert er in Los Angeles riesige Erfolge. Am Höhepunkt seiner Karriere lernt er den Rapper The Notorious B.I.G. kennen. Schnell werden sie beste Freunde – und genauso schnell erbitterte F ... Show More
1h 36m
Aug 2024
Ex-Managerin des Wu-Tang Clan Eva Ries (#722)
Eva Ries wollte eigentlich Rockbands managen, dann wurde es die Hip-Hop-Gruppe Wu-Tang Clan aus New York City. Im OMR Podcast erzählt sie, vor welche Herausforderungen sie die Zusammenarbeit mit der Band gestellt hat. Wie sie die Hip-Hop-Szene zwischen Drogen, Exzessen und Prügel ... Show More
1h 2m
May 2025
Malcolm X – Schwarzer Nationalist und Freiheitskämpfer
Für die US-Regierung war Malcom X Staatsfeind Nummer 1, heute sind Straßen nach ihm benannt und die Black-Lives-Matter-Bewegung beruft sich auf ihn. Von Christoph Drösser (SWR 2025) | Manuskript und mehr zur Sendung: http://swr.li/malcom-x || Hörtipp: Die afrodeutsche Bewegung – ... Show More
29m 57s
Oct 2024
Der Fall P. Diddy
#232: Im September diesen Jahres wurde der berühmte Musikproduzent und Rapper P. Diddy wegen gewaltsamem Sexhandel, Erpressung, Nötigung und Betrug verhaftet. Davor sind über 120 Zivilklagen wegen sexuellen Missbrauchs gegen ihn eingegangen. In dieser Folge sprechen wir darüber, ... Show More
2h 4m
Aug 2024
Elīna Garanča und Malcolm Martineau in Salzburg
2003 begeisterte Elīna Garanča bei den Salzburger Festspielen das Publikum und die Kritiker in Mozarts "La Clemenza di Tito". Ihre Karriere ging daraufhin steil nach oben. Am 20. August präsentierte sie in Salzburg zusammen mit Malcolm Martineau am Klavier ein spätromantisches Pr ... Show More
3m 40s
Oct 2024
Neue Enthüllungen über P. Diddy| #462
TICKETS: https://www.eventim.de/eventseries/3545008/?affiliate=SP6 HIER GEHTS ZUR WHATSAPP GRUPPE: https://whatsapp.com/channel/0029VapewerJpe8XNKPDHR0B In der neuesten Folge von Nizar & Shayan - Die Deutschen Podcast gibt es brisante Enthüllungen über die Welt der Prominenten! ... Show More
36m 51s
Apr 2025
Kollegengespräch: Neue Oper "Der Name der Rose"
Umberto Ecos Erfolgsroman aus dem Jahr 1980 ist bereits verfilmt und als Musical vertont worden. Nun gibt es auch eine neue Oper: "Il nome della rosa". Mit Regisseur Damiano Michieletto, Dirigent Ingo Metzmacher und einer internationalen Sängerbesetzung war ein namhaftes Team an ... Show More
4m 21s
Feb 2025
Superbowl 2025 - Kendrick vs Drake | #499
Heute beim Superbowl zwischen den Philadelphia Eagles und den Kansas City Chiefs sorgte Kendrick Lamar für einen Mega-Moment: Er performte tatsächlich seinen Disstrack gegen Drake – und die ganze NFL-Welt spricht darüber! In der heutigen Folge diskutieren Nizar und Shayan, warum ... Show More
59m 55s