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Jan 2023
28m 30s

Seneca: Über die Muße

Benjamin Lucas
About this episode

Massengeselligkeit ist durch die Wucht der Einstimmigkeit für uns eine Schule der Fehler. Mögen wir auch sonst nichts für unser Seelenheil tun, die Abgeschiedenheit ist doch an und für sich schon von Nutzen: wir werden uns bessern, wenn wir vereinzelt sind. Können wir uns doch beschränken auf den Umgang mit den trefflichsten Männern und uns ein Muster auserwählen, nach dem wir uns in unserer Lebensführung richten, eine Möglichkeit, die uns nur durch die Abgeschiedenheit vom Geschäftsleben gewährt wird. Nur dann kann man sich das zu eigen machen, was einmal unseren Beifall gefunden hat, wenn sich niemand dazwischen schiebt, der unser noch nicht zum festen Grundsatz gewordenes Urteil unter Beihilfe des großen Haufens in andere Bahnen lenkt; dann kann das Leben in gleichmäßigem und einheitlichem Zuge fortschreiten, das wir gemeinhin durch die sich widersprechendsten Vorsätze in Zwiespalt mit sich bringen; denn unter den sonstigen Übeln ist dies das schlimmste, daß wir mit den Fehlern selbst wechseln. ... Dazu achte noch darauf, daß man nach dem Grundsatz des Chrysippus in Muße leben darf, nicht etwa nur in dem Sinn, daß man sie nicht abzuweisen brauche, sondern in dem, daß man sie sich selber erwählt. Wir Stoiker sind weit entfernt, zu behaupten, der Weise werde sich jedem beliebigen Staatswesen widmen. Was aber macht es für einen Unterschied, auf welche Art und Weise der Weise zur Muße gelangt, ob deshalb, weil sich für ihn kein Staatswesen findet, oder deshalb, weil er selbst sich nicht in das Staatswesen findet, es müßte denn allenthalben sich ein wirkliches Gemeinwesen finden? Ein solches aber wird uns bei scharfen Anforderungen immer fehlen. Ich frage, welchem Staatwesen sich der Weise widmen soll, dem der Athener, wo ein Sokrates verurteilt wird, aus dem ein Aristoteles entfliehen muß, um sich der Verurteilung zu entziehen, wo die Gehässigkeit aller Tugend den Garaus macht? Du wirst nicht zugeben, daß der Weise sich einem solchen Staatswesen widmen werde. Wird sich also der Weise etwa in den Dienst des Karthager-Staates stellen wollen, wo ewiger Aufruhr herrscht und der Freiheitssinn jedem Ehrenmann gefährlich wird, wo Recht und Sittlichkeit nichts gilt, wo gegen Feinde unmenschliche Grausamkeit und gegen die eigenen Bürger Feindseligkeit herrscht? Auch diesen Staat wird er meiden. Wollte ich sie alle, einen nach dem anderen, durchgehen, ich werde keinen finden, der sich den Weisen oder den der Weise sich gefallen lassen könnte. Findet sich nun nirgends jener Staat, der unserem Geiste vorschwebt, so tritt der Fall ein, daß die Muße für alle notwendig wird, weil sich nirgends dasjenige findet, das vor der Muße den Vorzug erhalten könnte. Wenn einer behauptet, es sei das Beste, zu Schiff zu gehen, dann aber die Warnung hinzufügt, man dürfe sich nicht auf ein Meer begeben, wo Schiffbrüche an der Tagesordnung und plötzliche Stürme die Regel sind, die dem Steuermann das Spiel gänzlich verderben, dann, glaube ich, verwehrt er mir die Anker zu lichten, wenngleich er die Seefahrt preist.

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